Das galaktische Zentrum unter der Lupe
GRAVITY zoomt auf Sterne rund um das supermassereiche Schwarze Loch im Herzen unserer Milchstraße
Mit Hilfe des GRAVITY-Instruments am Very Large Telescope Interferometer (VLTI) der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile haben Astronomen einen noch nie zuvor gesehenen Stern in der Nähe des Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie entdeckt. Die tiefen Bilder mit extrem hoher Auflösung ermöglichten es dem Team unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik zudem, die Masse des Schwarzen Lochs so genau wie nie zuvor zu bestimmen. Die neuen Bilder zoomen in die Region um das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxie – 20-mal mehr, als dies ohne Interferometrie möglich war. Mit der genauen Vermessung der Bahnen der Sterne in unserem galaktischen Zentrum kann das Team möglicherweise sogar herausfinden, wie schnell das Schwarze Loch rotiert.
Wie kann man das Schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße erforschen? Ein Objekt, das man – per Definition – nicht sehen kann? Der Weg, den Reinhard Genzel, Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE), einschlug und der zum Physik-Nobelpreis 2020 geführt hat, besteht darin, Sterne auf engen Umlaufbahnen um das supermassereiche Schwarze Loch zu verfolgen. Die neuesten Ergebnisse seines Teams, die die drei Jahrzehnte andauernde Studie von Sternen in Umlaufbahnen um Sagittarius A* fortführen, werden heute in der Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics veröffentlicht.
Auf der Suche nach weiteren Sternen in der Nähe des Schwarzen Lochs hat das Team eine neue Analysetechnik entwickelt, um die bisher tiefsten Bilder unseres galaktischen Zentrums zu erhalten. „Das VLTI gibt uns eine unglaubliche räumliche Auflösung und mit den neuen Bildern sehen wir tiefer als je zuvor. Wir sind verblüfft von dem Detailreichtum und wie viel Aktivität und wie viele Sterne wir in der Nähe des Schwarzen Lochs sehen“, erklärt Julia Stadler, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Astrophysik, die während ihrer Zeit am MPE die Analyse der Daten leitete, um Bilder vom galaktischen Zentrum zu erzeugen. Bemerkenswerterweise fand das Team den Stern S300, der zuvor noch nie gesehen worden war. Dies macht deutlich, wie leistungsfähig diese Methode ist, um sehr schwache Objekte in der Nähe von Sagittarius A* zu entdecken.
Bei der jüngsten Beobachtungsreihe, die zwischen März und Juli 2021 durchgeführt wurde, konzentrierte sich das Team auf eine genaue Vermessung der Umlaufbahnen der Sterne nahe dem Schwarzen Loch. Dazu gehört auch der Rekordstern S29, der sich dem Schwarzen Loch Ende Mai 2021 mit der atemberaubenden Geschwindigkeit von 8740 km/s näherte und es in einer Entfernung von 13 Milliarden Kilometern passierte, gerade einmal dem 90-fachen Abstand zwischen Sonne und Erde. Bisher wurde kein anderer Stern beobachtet, der so nahe oder so schnell am Schwarzen Loch vorbeifliegt.
„Wir haben jetzt die Möglichkeit, im galaktischen Zentrum Präzisionsmessungen durchzuführen, und es als Labor zu nutzen, um die Vorhersagen von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zu testen“, erklärt Stephan Gillessen, der das Herz unserer Milchstraße seit den 1990er Jahren mit verschiedenen Techniken beobachtet. „Es gibt etwa 50 Sterne mit bekannten Umlaufbahnen in der Nähe von Sagittarius A*, und wir haben bereits die gravitative Rotverschiebung und die Schwarzschild-Präzession gesehen, als der Stern S2 im Jahr 2018 sehr nahe an dem supermassereichen Schwarzen Loch vorbeizog. Aber es gibt noch weitere offene Fragen wie zum Beispiel: Wie massereich ist es genau? Rotiert es?“
In Kombination mit den früheren Daten des Teams bestätigen die neuen Beobachtungen, dass die Sterne genau den Bahnen folgen, die die Allgemeine Relativitätstheorie für Objekte vorhersagt, die sich um ein Schwarzes Loch bewegen, das 4,3 Millionen Mal die Masse der Sonne hat. Dies ist die bisher genaueste Bestimmung der Masse des zentralen Schwarzen Lochs in der Milchstraße mit einer Genauigkeit von etwa 0,25 %. Den Forschern gelang es außerdem, die Entfernung zu Sagittarius A* so genau wie nie zuvor zu messen: es ist 27 000 Lichtjahre weit weg.
Die Messungen und Bilder des Teams wurden durch GRAVITY ermöglicht, ein einzigartiges Instrument, das die Forscher für das VLTI der ESO entwickelt haben. GRAVITY kombiniert das Licht aller vier 8,2-Meter-Teleskope des Very Large Telescope (VLT) der ESO mit Hilfe der sogenannten Interferometrie. Die Technik ist komplex, „aber am Ende erhält man Bilder, die 20-mal schärfer sind als die der einzelnen VLT-Teleskope und die die Geheimnisse des galaktischen Zentrums enthüllen“, sagt Frank Eisenhauer vom MPE, der leitende Forscher bei GRAVITY.
Um die neuen detaillierten Bilder zu erhalten, verwendeten die Astronomen zudem eine moderne Methode des maschinellen Lernens, die sogenannte Informationsfeldtheorie. Sie erstellten ein Modell, wie die realen Quellen aussehen könnten, simulierten, wie GRAVITY sie sehen würde, und verglichen diese Simulation mit den tatsächlichen GRAVITY-Beobachtungen. Auf diese Weise konnten sie die Sterne in der Umgebung von Sagittarius A* mit einer beispiellosen Tiefe und Genauigkeit finden und verfolgen. Zusätzlich zu den GRAVITY-Beobachtungen verwendete das Team auch Daten von NACO und SINFONI, zwei früheren VLT-Instrumenten, sowie Messungen des Keck-Observatoriums und des Gemini-Teleskops von NOIRLab.
GRAVITY wird derzeit weiterentwickelt, um die Empfindlichkeit weiter zu erhöhen und schwächere Sterne noch näher am Schwarzen Loch zu entdecken. Das Ziel des Teams ist es, mit GRAVITY+ Sterne so nahe am Schwarzen Loch zu finden, dass deren Umlaufbahnen die Gravitationswirkung von der Rotation des Schwarzen Lochs spüren würden. Das Extremely Large Telescope (ELT) der ESO, das derzeit in der chilenischen Atacama-Wüste gebaut wird, wird es dem Team außerdem ermöglichen, die Geschwindigkeit dieser Sterne in Blickrichtung zum galaktischen Zentrum mit sehr hoher Präzision zu messen. „GRAVITY+ und ELT zusammen werden uns in die Lage versetzen, herauszufinden, wie schnell sich das Schwarze Loch dreht“, stellt Eisenhauer fest. „Das hat bisher noch niemand geschafft.“