Enthüllung der 'Geister'-Baryonischen Materie

19. November 2024

Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) hat Licht auf eine der schwer fassbaren Komponenten des Universums geworfen: das warm-heiße intergalaktische Medium (WHIM). Diese „Geister“-Form der gewöhnlichen Materie, die seit langem vermutet, aber nur selten nachgewiesen wurde, soll einen erheblichen Teil der fehlenden Baryonen des Universums ausmachen - der Materie, aus der Sterne, Planeten und Galaxien bestehen.

Unter der Leitung von Dr. Xiaoyuan Zhang, einem Postdoktoranden am MPE, konnte das Wissenschaftlerteam mit Hilfe von Daten des eROSITA All-Sky Survey (eRASS) die Existenz von Hochtemperaturregionen mit hoher Dichte im WHIM nachweisen. Im Laufe von zwei Jahren beobachtete eROSITA, ein leistungsstarkes Röntgenteleskop an Bord der Raumsonde Spektr-RG, die schwache Röntgenemission des WHIM. Um diese schwachen Signale zu verstärken, setzten die Forscher eine Technik ein, die als „Stacking“ bekannt ist, und analysierten Röntgendaten an den Stellen von mehr als 7.000 kosmischen Filamenten, die durch den optischen Sloan Digital Sky Survey (SDSS) identifiziert wurden.

3D-Filament-Strukturen und eRASS-Karte

Diese Animation zeigt die 3D-Struktur der über 7.000 kosmischen Filamente, die durch die optischen Durchmusterungen der SDSS identifiziert wurden, und die entsprechende eRASS-Röntgenkarte im selben Teil des Himmels. Die Farben der Filamente zeigen die Rotverschiebungen an.

Aufgrund seiner extrem geringen Dichte (im Durchschnitt 10 Teilchen pro Kubikmeter) ist das WHIM bekanntermaßen schwer zu beobachten. „In zahlreichen Studien wurde versucht, das WHIM durch Röntgenabsorption, Röntgenemission und den Sunyaev-Zeldovich-Effekt nachzuweisen. Einige haben zwar zu bescheidenen positiven Ergebnissen geführt, werden aber aufgrund möglicher Verunreinigungen und systematischer Unsicherheiten oft in Frage gestellt. Mit der eROSITA-All-Sky-Durchmusterung, die die tiefsten All-Sky-Röntgendaten liefert, haben wir nun die einmalige Gelegenheit, WHIM-Röntgenemission in Verbindung mit großräumigen kosmischen Strukturen nachzuweisen", erklärt Esra Bulbul, Leiterin der Gruppe Cluster und Kosmologie am MPE.

Den kosmischen Filamenten auf der Spur

Kosmische Filamente, die größten Strukturen im Universum, sind Teil des komplizierten Netzwerks des kosmischen Netzes, das Galaxien und Galaxienhaufen miteinander verbindet. Etwa die Hälfte der Materie im Universum befindet sich in Filamenten, die weniger als 10 % seines Volumens einnehmen. Aufgrund ihrer anisotropen Geometrie und ihrer geringen Dichte sind Filamente in ihren einzelnen Bestandteilen, wie Gas oder Galaxien, nur schwer zu erkennen. „Der unmittelbarste Weg, dies zu erreichen, ist über die Galaxienverteilung. Ein Durchbruch wurde erreicht, als groß angelegte spektroskopische Durchmusterungen wie SDSS zugänglich wurden und mit komplexen Algorithmen gekoppelt wurden, um die Filamente zu erkennen. Das ist der Ansatz, den wir verfolgt haben und der es uns ermöglichte, die Position der Filamente zu verfolgen, um dann eine Stapelanalyse durchzuführen“, sagt Dr. Nicola Malavasi, Marie Skłodowska-Curie-Stipendiat am MPE, der die Filamente gefunden hat. In diesen Filamenten befindet sich das WHIM, ein diffuses Gas, das nur schwache Röntgenstrahlung aussendet und daher kaum direkt nachgewiesen werden kann. Die ausgeklügelte Stacking-Methode des Teams hat jedoch ein klareres Bild dieser Emission ergeben und das Vorhandensein von WHIM sowie eine Messung seiner durchschnittlichen Temperatur und Dichte offenbart. Diese Entdeckung bringt die Wissenschaftler der Lösung des langjährigen Rätsels der fehlenden Baryonen im Universum näher und bietet neue Einblicke in die Struktur und Entwicklung des kosmischen Netzes. 

"Überraschenderweise konnten wir das kosmische Netz im Röntgenbereich (9σ) nachweisen. Das war aber noch nicht das Ende der Geschichte. Wir mussten auch die Kontamination durch unentdeckte galaktische Quellen sorgfältig abbilden, was der Schlüssel dazu war, den Anteil des WHIM an unserem Signal zu bestimmen“, so Xiaoyuan Zhang, der Erstautor der Studie. Die Studie stellt eine innovative Methode zur Abschätzung der Kontamination durch unmaskierte Röntgenhalos, aktive galaktische Kerne und Röntgendoppelsterne in Verbindung mit Filamentgalaxien vor. Die Analyse ergab einen Kontaminationsanteil von etwa 40 %, was darauf hindeutet, dass etwa 60 % des entdeckten Signals vom WHIM stammen könnten, mit einer Entdeckungssignifikanz von 5,4σ.

Das Team untersuchte die Eigenschaften des kürzlich entdeckten WHIM genauer und konnte so entscheidende Erkenntnisse über dessen Natur gewinnen. Die Ergebnisse der hochmodernen numerischen Simulation deuten darauf hin, dass das beobachtete Röntgensignal wahrscheinlich von WHIM-Regionen mit Temperaturen im Bereich von mehreren Millionen Kelvin und Dichten von etwa 100 Teilchen pro Kubikmeter stammt.

Next-Generation Galaxy Surveys

"Unsere neuen Ergebnisse zeigen das immense Potenzial der eROSITA-Durchmusterungsdaten bei der Entdeckung extrem schwacher diffuser kosmischer Plasmen“, fügt Dr. Zhang hinzu. Ihre Arbeit bestätigt nicht nur die Existenz des schwer fassbaren WHIM, sondern eröffnet auch neue Wege zur Untersuchung der Rolle dieser geisterhaften Baryonen bei der Gestaltung der großräumigen Struktur des Universums. Diese Entdeckung ist ein bedeutender Schritt zum Verständnis der Zusammensetzung des Universums und der verborgenen gewöhnlichen Materie, die das riesige kosmische Netz zusammenwebt.

Andrea Merloni, leitender Forscher des eROSITA-Projekts am MPE, wagt einen kurzen Blick in die Zukunft: „In den nächsten Jahren werden neue groß angelegte spektroskopische Galaxiendurchmusterungen wie DESI und 4MOST größere und detailliertere Galaxien- und Filamentkarten liefern. Die wesentlich stärkere Überlappung dieser Durchmusterungen mit den eROSITA-Gesamtdaten wird eine verfeinerte Analyse der gestapelten Röntgendaten ermöglichen und neue Informationen über den physikalischen Zustand von WHIM ans Licht bringen“.

Dieses Projekt wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizont 2020“ der Europäischen Union gefördert (Finanzhilfevereinbarung Nr. 101002585).

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