Kleinste Teilchen verformen die großräumige Struktur des Universums

10. März 2015

Eine systematische Erfassung der massereichen Galaxienhaufen im nahen Universum liefert Informationen über die leichtesten Elementarteilchen: Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik konnten aus einem Röntgenkatalog ableiten, dass es heute weniger Struktur im Universum gibt, als man aufgrund der Daten des kosmischen Mikrowellenhintergrundes im sehr frühen Universum erwarten würde. Diese Diskrepanz lässt sich erklären, wenn die drei Neutrinofamilien zusammen eine Masse von etwa einem halben Elektronvolt besitzen.

Überall sind wir von ihnen umgeben und durchdrungen, aber doch spüren wir sie nicht: die Neutrinos, die merkwürdigsten unter den uns bekannten Elementarteilchen. Sie haben fast keine Wechselwirkung mit anderer Materie und in jeder Sekunde durchdringen Abermilliarden den ganzen Erdball, wovon aber nur die wenigsten stecken bleiben. Neutrinos sind in großer Zahl aus dem Urknall übriggeblieben: etwa 340 Millionen finden sich im Mittel in jedem Kubikmeter. Sie sind neben den Lichtteilchen (den Photonen) die zahlreichsten Elementarteilchen im Universum.

 

Lange galten Neutrinos als masselos. Inzwischen haben aber Beobachtungen von Sonnenneutrinos und terrestrische Experimente klar gezeigt, dass sie eine Ruhemasse besitzen. Noch wissen wir allerdings nicht, wie schwer sie sind. Aufgrund ihrer großen Anzahldichte könnten sie aber auch als recht leichte Teilchen einen deutlichen Beitrag zur Massendichte im Universum leisten.

 

Im All kommt nun eine andere Eigenschaft der Neutrinos zum tragen: sie sind die schnellsten Flitzer unter den massiven Elementarteilchen, die aus dem Urknall kommen. Während sich der überwiegende Anteil der anderen Materie im Laufe der kosmischen Entwicklung unter der Wirkung der Schwerkraft zu großräumigen Strukturen zusammenballt und unter anderem sichtbaren Galaxien bildet, sträuben sich die Neutrinos mit ihrer hohen Geschwindigkeit, sich in diese Strukturen einzufügen und behindern deren Wachstum. Genau hier kommt es nun kommt auf die Masse der Neutrinos an: Je massereicher sie sind, umso mehr können sie der Verklumpung der Materie in großräumige Strukturen entgegenwirken.

 

Dies macht sich die Astrophysik zu nutze, indem sie versucht diesen Dämpfungseffekt im Wachstum der Strukturen zu messen. Der Vergleich zweier Beobachtungen macht diesen Effekt deutlich. Zum einen kennt man die Dichtefluktuationen im frühen Universum. Dieses Licht wurde etwa 380 000 Jahren nach dem Urknall ausgesandt und kann heute als Mikrowellenhintergrund beispielsweise durch den Planck-Satelliten beobachtet werden. Mit dieser Ausgangssituation kann man mithilfe von akzeptierten kosmologischen Modellen berechnen, wie diese Strukturen heute in unserem Universum aussehen würden. Damit kann man recht genaue Aussagen machen und zum Beispiel vorhersagen, wie viele Galaxienhaufen bestimmter Masse sich in einem Einheitsvolumen im Universum bilden.

 

Zwei Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching, Hans Böhringer und Gayoung Chon suchen seit Jahren nach Galaxienhaufen im nahen Universum (d.h. bis zu einer Entfernung von etwas mehr als 3 Milliarden Lichtjahren). Sie nutzen dazu Beobachtungen im Röntgenlicht mit dem ROSAT-Satelliten und haben einen vollständigen Katalog massereicher Galaxienhaufen erstellt. Damit lässt sich überprüfen, ob die Voraussage des kosmologischen Standardmodells mit den Beobachtungen übereinstimmt.

 

„Es passt alles erstaunlich gut“, stellt Hans Böhringer fest. „Aber bei näherer Betrachtung sind die Strukturen im nahen Universum etwas weniger stark ausgeprägt, als wir aufgrund der Planck-Beobachtungen erwartet hätten - wenn man die Masse der Neutrinos vernachlässigt.“  

 

Auch wenn die Diskrepanz nur 10% beträgt, wurde die Genauigkeit der Messungen in den letzten Jahren so drastisch verbessert, dass die Wissenschaftler diese Abweichung ernst nehmen.

 

„Diese Diskrepanz können wir erklären, wenn wir annehmen, dass die Neutrinos eine Masse haben“, erklärt Gayoung Chon. „Unsere Analyse deutet darauf hin, dass die drei Neutrinofamilien zusammen eine Masse zwischen 0.17 und 0.73 Elektronenvolt besitzen.“

 

Es gibt drei Neutrinoarten, Elektronen-, Muon- und Tauneutrinos, die sich ineinander umwandeln können. Viele Experimente, wie auch die Abschätzung aufgrund der Strukturbildung im Universum, können nur die Gesamtmasse aller drei Familien auf einmal oder Massendifferenzen bestimmen. Und diese ist auch noch extrem klein: etwa 0.8 x 10-36 kg, eine Million mal weniger als ein Elektron, das kleinste Elementarteilchen, das in normaler Materie (wie z.B. unserem Körper) verbaut ist.  

 

Damit machen Neutrinos nur etwa 1 bis 5% der Dunklen Materie aus. Trotzdem lässt sich der Effekt mit den heute sehr genauen Methoden messen. Einige andere kosmologische Messungen, wie die Gravitationslinsenwirkung der großräumigen Struktur und die Bewegung der Galaxien in der großräumigen Struktur, weisen auf eine Dämpfung der Strukturamplitude nach der Entstehung der Mikrowellenhintergrundes hin und bestärken damit die Ergebnisse aus dem Studium der Galaxienhaufen.

 

Für die subtile Dämpfung des Strukturwachstums könnte es auch andere Erklärungen geben, wie beispielsweise eine Wechselwirkung zwischen Dunkler Materie und Dunkler Energie. „Das sind aber eher exotische Effekte,“ betont Hans Böhringer. „Massereiche Neutrinos sind augenblicklich die weitaus plausibelste Erklärung der Beobachtungen. Die Ergebnisse sind sehr ermutigend. Wir verbessern im Augenblick unsere Messmethoden um in Kürze präzisere Resultate erzielen zu können.“

 

Dies ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Welt im Kleinsten und Größten zusammenspielt. Die größten klar definierten Strukturen im Universum, die Galaxienhaufen, liefern Informationen über das Gewicht der leichtesten Elementarteilchen, die wir kennen. Der Massenunterschied umfasst dabei 48 Größenordnungen! Die Astrophysik leistet hiermit einen wichtigen Beitrag zur Theorie der Elementarteilchen. 

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